Максим Гурбатов и Анна Чайковская

Книга Букв

самый первый литерный проект

Diese Esche ist der Größte und Beste von allen Bäumen: seine Zweige breiten sich über die ganze Welt und reichen hinauf über den Himmel. Drei Wurzeln halten den Baum aufrecht, die sich weit ausdehnen.
Snorri Sturluson. »Jüngere Edda«

1.

Das Buch der Buchstaben – das große Spiel mit Lettern im Raum verbaler und visueller Kunst

1.1. Ein echtes Buch muss Texte und Bilder enthalten. In Dem Buch der Buchstaben gibt es viele Texte und viele eigenartige, authentische Bilder, die nichts ihresgleichen haben. Sie sind weder gezeichnet noch mit Farben angemalt oder aufgedruckt. Sie sind aus Lettern erschaffen worden.

1.2. Die Lettern erscheinen hier in aller Pracht. Sie sind unerwartet groß und stofflich tastbar wie Brot und schön wie Vögel. Die Lettern haben sich zu Wörtern und Sätzen geformt – die angeschaut werden können und gelesen werden müssen. Buchstabengeschichten sind faszinierend und amüsant wie ein Abenteuerroman und dekorativ, als Zierde dienend, wie alte Fresken.

2.

Die Letternzeit

2.1. Den ersten Lettern sind wir zufällig begegnet. Sie lagen auf dem staubigen Asphalt neben dem Hoftor einer Druckerei. Sehr groß – wie die Hand, und dick wie ein guter Reiseführer. Ein schmales „é“ und „T“ ohne Serifen hätte man mit Möbeldekor verwechseln können. Aber als da große „A“s und „K“s lagen – gab es keinen Zweifel: dies waren Lettern.

2.2. Wie uns erst später klar wurde, sind wir den ersten Lettern nicht zufällig begegnet. Sie haben auf uns gewartet. Die Ersten zu finden war genauso, als ob man plötzlich eine Karte in der Hand hält, die zu einer Schatzinsel führt.

2.3. Unsere Schatzsuche haben wir an uns bekannten Orten begonnen. Sechs Säcke voller Lettern kamen als Zuladung mit einer anderen Wagenladung aus der Archangelsker Druckerei der Zeitung »Nordische Wahrheit«. Circa zweihundert Lettern haben wir aus dem bei Moskau liegenden Tschehow bekommen. Zwei Kartons – aus Severodwinsk und dreihundert Stück aus Iwanowo. Das war es.

2.4. Überraschend erfuhren wir, daß es in der Moskauer Stadtmitte eine verlassene Druckerei gab. Bis vor ungefähr zehn Jahren wurde da gearbeitet und gedruckt: das Blut in Adern und das Wasser in den Wasserkochern kochte. Teile von Druckfahnen, zerrissene Drucktintendosen, Rechenbretter lagen herum und überall in allen Abteilungen fanden sich verschiedene Lettern: Kleine aus Metall, von Nonpareille bis Halbkonkordanz, und Große aus Holz.

2.5. Wir haben es geschafft, ein paar Tausend Holz-Lettern genau in dem Moment zu sammeln, als ihre fünfhundertjährige Geschichte abrupt zu Ende ging. In der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert hatten in Russland alle Druckereien schlagartig auf computergesteuerten Drucksatz umgestellt. Die Lettern waren seither arbeitslos.

3.

Das Wort, das Zeichen, die Technologie

3.1. »Haben sie das selbst ausgeschnitten?« – fragten uns die ersten Betrachter Des Buchs der Buchstaben. Wir haben geantwortet, daß eine Letter eine Form ist, mit der ein Abdruck eines Buchstabens gedruckt wird, daher sind die Buchstaben spiegelverkehrt. Außerdem sind kleine Lettern aus Metall für Bücher und Zeitungsdruck und die Großen aus Holz für den Druck von Plakaten und Bekanntmachungen genutzt worden.

3.2. Das Buch der Buchstaben enthält die Lettern von vielen Schriften. Und was für Schriften! Es gibt unter ihnen eine Schrift mit großen schweren Serifen aus der Zeit der Russischen Revolution im Jahr 1917. Mit solchen Lettern sind Propagandaplakate gedruckt worden. Es gibt Exemplare aus dem Jugendstil - Schriften mit gehobenen Haarstrichen und schwungvollen Linien sowie serifenlose Schriften, die massiv wie Mauersteine sind. Darüber hinaus gibt es Buchstaben der »Akademie« Schrift, die adlige Bücherherkunft haben und klar und intelligent dargestellt sind. Dazu kommt die »Granit« – eine Art Hippie der Schriftkunst, eine Erfindung der Tauwetter-Periode der Sechziger Jahre.

3.3. Der Hauptaspekt der Lettern ist, dass sie gleichzeitig ein Objekt wie auch ein Zeichen oder Symbol sind. Sie sind ein skulpturgewordenes Stück Holz mit Maserungen, das alle Eigenschaften eines physikalischen Körpers besitzt: Gewicht, Dichte und Textur. Zugleich sind sie aber Zeichen des Schrifttums und Element der Sprache – ein Buchstabe. Normalerweise nennen wir die Lettern genau so – Buchstaben. »Buchstabe« ist der Name, »Letter« hingegen ist nicht mehr als eine Berufsbezeichnung.

4.

Die Rückkehr des Buchstabens

4.1. In ihrem vergangenen Leben in der Druckerei waren die Lettern von der Welt versteckt, wie ein Geist in Flasche oder eine Prinzessin, die in einem Verlies eingeschlossen ist. Wer – außer den Setzern und Metteuren hat sie gesehen?

4.2. Wir haben Das Buch der Buchstaben zusammengestellt, weil wir damit zeigen wollten, daß die Lettern wunderschön sind und Kunstbetrieb, Technologie und Literatur zusammenfassen. Als ihr Dienst in Druckerei zu Ende ging, bedeutete dies, daß ihre Berufung jetzt im künstlerischen Bereich liegt.

4.3. Vor vielen Jahren hat ein Künstler – Schriftenschöpfer, eine Form eines Buchstabens erdacht, entworfen und gezeichnet. In der Druckerei ist dann aus diesem Zeichen eine Letter geworden. Dort wurde sie mit anderen Lettern in Zeilen zusammengepresst, gefärbt und schließlich in die Druckerpresse geschickt. Danach ging die Auflage in die Welt hinaus, für die Lettern gab es jedoch nur einen Weg – zurück ins Regal und zwar in den Setzkasten. Als später Polygraphie die Prozesse geändert hat, hätten die Lettern verschwinden und verloren gehen müssen, sind aber in Dem Buch der Buchstaben gelandet – in den Händen eines Künstlers. So schließt sich der Kreis.